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Beeindruckender Vortrag über ein geschundenes Land

Afghanistan-Experte Dr. Erös nimmt kein Blatt vor den Mund

Wenn es um die Aktivitäten unserer Regierung – der jetzigen sowie jeder vorherigen – in Bezug auf Afghanistan geht, fragt Dr. Erös: Wer hat sich für die Menschen in diesem Land je interessiert und eingesetzt?

Nach einer kurzen Begrüßung durch den Kreisvorsitzenden der ÖDP HX-Lippe Martin Blumenthal legt Dr. Reinhard Erös von der „Kinderhilfe Afghanistan“ gleich los. Von Anfang an spricht Erös, der diese Organisation als Familien-Initiative 1998 ins Leben gerufen hat und seit dieser Zeit vor allem Kinder und Frauen in Afghanistan mit schulischen und medizinischen Projekten unterstützt, eine klare Sprache.

Erös engagiert sich seit 1987 – zuerst mit seiner Frau Annette, jetzt mit seiner gesamten Familie – in dem geschundenen Land.

Über 40 Zuhörer*innen tauchen im gut gefüllten Konferenzsaal des Melanchthon-Zentrums in Bad Driburg in die jüngere Geschichte Afghanistans ein. Erös berichtet von einem Land der Extreme: Höhen zwischen 40m NN im Westen bis zu 7600m im Osten, die Hauptstadt Kabul auf ca. 2000m. Temperaturunterschiede von +60° C im Süden bis hinab zu -45° C im Norden.
Bis zum Einmarsch der Sowjets im Jahr 1979 herrschte lt. Erös in Afghanistan ein klassischer Islam vor, den er als unpolitisch, friedlich-tolerant, nie expansiv oder missionarisch beschrieb.

Dies sollte sich nach dem Abzug der Sowjetischen Truppen ändern.
Mit dem Einmarsch der Sowjets 1979 begann ein über 40-jähriger Krieg in einem Land, welches von sich aus nie einen Krieg begonnen und keine anderen Länder je überfallen hat.
Der Krieg von 1979-1989 brachte einem Land, das zu der Zeit ca. 15 Mio. Einwohner hatte 1,6 Mio. Tote, 1,8 Mio. Verstümmelte und 20.000 zerstörte Dörfer.
Im Überblick: 1979-1989 Jihad gegen die UdSSR, 1989-2001 afghanischer Bürgerkrieg, 2001-2021 Aufstand gegen die NATO, seit August 2021 Machtübernahme durch die Taliban.

Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 begann der Terror der sogenannten Taliban: Zerstörung von Kulturgütern, Beseitigung von Oppositionellen und der Terror gegen Frauen.

Doch am fürchterlichen Anschlag 9/11 in New York war kein einziger Afghane beteiligt, auch nicht bei islamistischen Großanschlägen in Europa.  
Der damalige US-Präsident Bush, der sich der „uneingeschränkten“ Solidarität des deutschen Bundeskanzlers Schröder erfreuen konnte, begann lt. eigenen Worten einen „Kreuzzug“ gegen den Islamismus. Dieser fand hauptsächlich in Afghanistan statt mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung, vor allem für die Kinder. Allein 2011 kamen über 300 afghanische Kinder bei Angriffen ums Leben.

Während der Stationierung der NATO-Truppen wuchs die Korruption im Land. Der Anbau von Schlafmohn nahm um das 50-fache zu. Hier schaute die NATO großzügig weg.
Afghanische Generäle steckten sich Millionen in die eigenen Taschen, während das Volk hungerte.

Und das alles, wo doch in westlichen Medien verbreitet wurde, der westliche Militäreinsatz diene dem Wiederaufbau des Landes.
Mit der Machtübernahme der Taliban haben sich korrupte Militärs und Spitzenpolitiker mit amerikanischer Unterstützung ins Ausland abgesetzt. Viele davon residieren heute in Nobel-Villen und Hotels in den Arabischen Emiraten. Und das Volk hungert weiter…

Unvorstellbare 1.200.000 Milliarden Dollar hat der NATO-Einsatz gekostet.

Nach 20 Jahren Einsatz sieht die Situation im Land heute so aus:
45% der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre, 85% der Frauen und 55% der Männer sind Analphabeten, die Lebenserwartung der Afghanen beträgt bei Frauen 40 Jahre, bei Männern 48 Jahre. Es herrscht eine Arbeitslosigkeit von 60%. 40% der Kinder sind chronisch unterernährt. 87% der Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser.
Ein Bericht der Unicef von 2018 kennzeichnet „Afghanistan als den schlimmsten Platz für Kinder“. 70% aller Kinder ab 12 Jahren arbeiten bis zu 10 Std. am Tag – an bis zu 6 Tagen in der Woche.
Seit 1980 belegt Afghanistan einen der oberen Plätze aller Flüchtlingsstaaten (die meisten der 7 Mio. afghanischen Flüchtlinge nahm Pakistan auf).

Gab es einst 1500 Hilfsorganisationen in Afghanistan, ist außer kleineren Gruppen in Kabul in den Provinzen nichts mehr zu sehen. In den Ostprovinzen des Landes, wo die Taliban besonders stark sind, ist die „Kinderhilfe Afghanistan“ die einzig verbliebene noch aktive Hilfsorganisation: Mädchen aus armen Familien, die vormals noch Abitur machen konnten, werden zu Hebammen und Krankenschwestern ausgebildet. Für Jungen gibt es eine Ausbildung zum Techniker, außerdem Computer-Klassen und Werkstätten für Schneiderinnen. Arztpraxen und Kleinkliniken im Osten werden mit Photovoltaik-Anlagen ausgestattet. Erös weiter: „All unsere Mitarbeiter, besonders unsere Lehrerinnen, Ärztinnen, Hebammen und Krankenschwestern arbeiten weiterhin, werden von uns bezahlt und leben in Sicherheit. Unsere Projekte laufen ungestört.
Doch eines macht Erös große Sorgen: Seit 2021/22 herrscht eine brutale Hungerkatastrophe im Land, mit monatlich 10.000 Opfern, vorwiegend Kinder und Frauen. Jedes 2. Kind ist vom Hungertod bedroht. Und auch hier leistet die Kinderhilfe mit den Lebensmittelpaketen, die an Tausende von Familien verteilt werden, Unermessliches.

Afghanistan scheint ein „vergessenes Land“ zu sein. Das macht betroffen und dies ist auch während des Vortrags zu spüren: Ein sichtlich angespannter Erös trägt seinen Vortrag nicht ohne Emotionen vor.

Wer mehr über die Arbeit von Dr. Erös, seiner Familie und die „Kinderhilfe Afghanistan“ wissen möchte: www.kinderhilfe-afghanistan.de

 

Foto - von links: Dr. Reinhard Erös, Petra Flemming-Schmidt, Annette Erös, Martin Blumenthal

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